Klingt nach einem krassen Titel für einen Beitrag? Ja, ist es auch. Ich habe auch lange überlegt, wie ich diesen Beitrag nennen soll und irgendwie ist kein Titel so richtig passend. Ich denke, meine Mutter wird kurz innehalten und schlucken, wenn sie diesen Beitrag liest, denn was meine Geschichte ist, ist allem voran ihre Geschichte. Eine Geschichte die mehr als 38 Jahre zurückliegt und Anfang der 80er Jahre hat keiner darüber gesprochen. Es wurde Tod geschwiegen und dennoch hat mich das kaum auszuhaltende, so nachhaltig geprägt, dass es mir heut ein Bedürfnis ist, diese Geschichte mit euch zu teilen.
Ich war ein anstrengendes Kind. Nicht nur ein bisschen anstrengend, nein, richtig schlimm anstrengend. Ich war anders als die Mädchen in meinem Alter. Immer eine Spur lauter, wilder und manchmal viel mehr wie ein lebhafter, wilder Junge. Ich trug immer tolle Kleider, die schönsten Zöpfe und hielt mich trotzdem am liebsten auf Bäumen auf, als mit Puppen zu spielen.
Es ging mir vor allem um die Aufmerksamkeit meines Vaters. Meine Mutter hatte es nie leicht. Sie zog mich und meine beiden Schwestern allein groß. Mein Vater kam alle paar Wochen für einige Tage nach Hause, brachte dort unseren geregelten Alltag deutlich durcheinander und war dann wieder wochenlang in der Welt unterwegs. Meine Mama hat den Job zu Hause ganz allein gemacht und ich bin ihr so dankbar, wie sie das alles gemeistert hat, denn jetzt, wo ich selber Kinder habe, weiß ich, wie schwer es ist allen und allem gerecht zu werden und glaube, meine Mutter hat für uns Kinder auf sehr viel verzichten müssen.
Da bin ich nun, das Sandwich-Kind. Ich habe eine jüngere und eine ältere Schwester. Die große, die eigentlich viel zarter und kleiner ist als ich, hatte einen schwierigen Start ins Leben. Sie ist vor 38 Jahren als Frühchen zur Welt gekommen. 12 Wochen vor dem errechneten Termin. Damals waren die Neointensivstationen noch nicht auf dem Stand, den sie heute haben. Die besondere Schwere liegt allerdings im Verlust meines Bruders, denn meine Schwester war ein Zwilling. Nur wenige Tage nach der frühen Geburt verstarb er und es gibt nur ein paar Fotos von ihm im Brutkasten. Als Baby hat meiner Schwester immer etwas gefehlt. Der Kinderarzt empfahl meinen Eltern einen Spiegel am Gitterbett zu befestigen und es hat ihr sehr geholfen. Sie war dadurch nicht mehr allein. Heute erzählt meine Mutter über die schwierige Zeit nach dem schrecklichen Verlust, früher aber tat es keiner. Über diese Ereignisse sprach man nicht. Leider, denn ich glaube, es hätte allen gutgetan. Auch uns erzählten meine Eltern zunächst nichts, bis mir eines Tages Kinderfotos von der Neointensiv in die Hände fielen und das Kind auf den Bildern ganz eindeutig kein Mädchen war. Es muss eine schreckliche Zeit für meine Eltern gewesen sein. Ich mag mir nicht ausmalen, wie schlimm es sich anfühlt, so einen Verlust zu erleiden. Nach nur einem Jahr wurde meine Mutter wieder schwanger. Ich war unterwegs und damit die Erwartungen meines Vaters. Er wünschte sich einen Sohn und dann kam ich. Ein Mädchen…
Die Erwartung meines Vaters, noch einmal einen Sohn zu bekommen, nachdem sein Sohn verstorben war, habe ich früher deutlich gespürt. Verrückt, oder? Wenn ich an meine Kindheit denke, dann erinnere ich mich an meine Mutter, die immer versucht hat uns viel Liebe zu geben und den fehlenden Vater im Alltag zu kompensieren. Aber wenn ich an meinen Vater denke, dann habe ich immer versucht ihn zu beeindrucken. Ich habe immer versucht wie ein Junge zu sein, das Kind, das ihm genommen wurde und das er so vermisst. Das Gefühl “nur ein Mädchen” zu sein, nicht genug zu sein und durch besonders auffälliges Verhalten um die Gunst und Aufmerksamkeit meines Vaters zu kämpfen. Ich lernte auf der Gitarre zu spielen, weil er es tat. Fing an zu Surfen, weil er es tat und überhaupt werkelte ich lieber stundenlang in seinem Keller, um mir anschließend einen riesigen Ärger einzufangen. Ärger fühlte sich in dem Fall nicht so schlimm an, denn dann hatte ich ja seine Aufmerksamkeit.
So verlief eigentlich meine ganze Kindheit. Mir ist es heut fast unangenehm, wie schwierig ich war und was meine Mutter dadurch für Umstände hatte. Ich war bereits ein paar Jahre alt, als meine Eltern noch ein weiteres Kind bekamen. Ein Mädchen. Meine süße kleine Schwester, die natürlich schon groß ist und trotzdem immer meine kleine Schwester bleibt.
Heut lebt mein Vater in Japan. Hat dort eine neue Frau und noch ein Kind bekommen. Ein Mädchen. Als ich meinen Vater vor einigen Jahren in England traf, sagte er mir, dass er es mir etwas neidet, dass ich zwei Jungs bekommen habe. Auch der Erstgeborene meiner großen Schwester ist ein Junge. Ich habe mit Mitte 20 eine Familienaufstellung gemacht und kann heute viel besser verstehen und gut damit Leben. Ich hoffe sehr, dass meine Kinder frei von solchen Erwartungen, sei es unbewusst oder bewusst, groß werden und keine Rollen einnehmen müssen. Ich wünsche mir, dass ich gegenüber meiner Kinder immer die nötige Liebe, Aufmerksamkeit und Geduld habe, sie beim Heranwachsen zu begleiten, damit sie immer sie selbst bleiben können und spüren, dass sie genau richtig sind, wie sie sind.
Alles Liebe,
eure Lori